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Einschätzungen über das Risiko zukünftiger Gewalttätigkeit sind ein fester Bestandteil der Arbeit von Psychologinnen und Psychologen, wobei bis heute wenig darüber bekannt ist, in welcher Form kriminalprognostische Einschätzungen in der alltäglichen Berufspraxis vorgenommen werden. Ziel der vorliegenden Studie ist es, einen Überblick über die kriminalprognostische Praxis in Deutschland zu geben. Dafür werden die Ergebnisse des International Risk Surveys ausgewertet, an dem weltweit N = 2.135 Personen aus 44 Ländern teilgenommen haben. Aus Deutschland wurden M = 97 Psychologinnen und Psychologen sowie Angehörige anderer Berufsgruppen über ihre kriminalprognostischen Tätigkeiten befragt. Die Daten zeigen, dass mittlerweile in der Praxis mehrheitlich auf standardisierte Prognoseinstrumente (z. B. PCL-R, HCR-20, FOTRES, VRAG) zurückgegriffen wird. Die Instrumente werden nicht nur für die prognostische Einschätzung über das zukünftige Gewaltrisiko als nützlich eingestuft, sondern auch im Hinblick auf die Therapieindikation sowie die verlaufsdiagnostische Untersuchung von Behandlungs- und Betreuungsfällen als hilfreich beurteilt.
Die vorliegende Studie untersucht, inwiefern kriminalprognostische Verfahren sich auch zur Vorhersage von Lockerungsmissbräuchen und intramuralen Regelverstößen in Justizvollzugsanstalten eignen. Es werden die Validität der dritten Version der Offender Group Reconviction Scale (ORGS 3) und des Screeninginstruments des Gewaltrisikos (SVG-5) und weiterer Prädiktoren, darunter Suchtproblematik, stabile Lebenssituation und Verstöße gegen Bewährungsauflagen, untersucht. Die analysierte Gesamtstichprobe (N = 200) besteht aus männlichen Insassen der Justizvollzugsanstalt (JVA) Frankenthal im Durchschnittsalter von M = 37,98 Jahren zum Untersuchungszeitpunkt im Sommer des Jahres 2019. Die Auswahl der Gesamtstichprobe erfolgte zweistufig: (1) es wurden n = 100 Gefangenenpersonalakten von Straftätern mit genehmigten Vollzugslockerungen und (2) n = 100 Gefangenenpersonalakten ohne gewährte Lockerungen ausgewählt. Für die Prognoseinstrumente ergeben sich überwiegend geringe bis maximal moderate Effektstärken: für die ORGS 3: AUC = 0,522 bis 0,556 und für das SVG-5: AUC = 0,561 bis 0,653. Es wird geschlussfolgert, dass beide Instrumente bezüglich der Vorhersage von Lockerungsmissbräuchen und intramuralen Verstößen im Regelvollzug als nicht prädiktiv einzustufen sind. Abschließend wird konstatiert, dass die Untersuchung trotz methodischer Einschränkungen das Potenzial aktuarischer Prognoseinstrumente für die Prädiktion von Lockerungsmissbräuchen und intramuralem Fehlverhalten aufzeigen konnte.
Die Stichtagserhebung der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) fragt jedes Jahr zum Stichtag am 31. März die Gegebenheiten in allen sozialtherapeutischen Einrichtungen des Justizvollzuges deutschlandweit ab. Inzwischen liegen Daten aus 23 Erhebungsjahren vor und geben Aufschluss über die Entwicklungen in der Versorgungslage (Anzahl der Einrichtungen bzw. Haftplätze), zu demographischen Variablen der Gefangenen (Alter, Staatsbürgerschaft, Dauer der Haftstrafe, schwerste Straftat, Vorstrafen), über institutionelle Vorgänge (Aufnahmen, Abgänge, Nachbetreuung) sowie hinsichtlich von Daten zum Personal (Anzahl der Personalstellen und Frauenanteil). Die Auswertungen verdeutlichen die Entwicklungstrends in der Sozialtherapie zwischen 1997 und 2019 und legen nahe, dass nach einem starken Ausbau der sozialtherapeutischen Einrichtungen ab 1969 mit nunmehr 71 Einrichtungen eine Sättigungsgrenze erreicht zu sein scheint. Die inhaftierten Personen werden zunehmend älter, sodass 2019 die über 50-Jährigen die größte Altersgruppe stellen. Schon seit 2003 liegt der Anteil derjenigen, die aufgrund eines Sexualdelikts inhaftiert sind, bei ca. 50 %, was gegenüber anderen Deliktgruppen eine deutliche Mehrheit darstellt. Ein Großteil der Gefangenen hat keine Haftlockerungen, wobei hier eine zunehmend restriktivere Praxis zu erkennen ist. Die Personalausstattung hat sich über die letzten 23 Jahre insofern verändert, als dass mehr Fachdienste und tendenziell weniger Stellen im allgemeinen Vollzugsdienst (AVD) eingerichtet wurden.
Das Selbstregulationsmodell sexueller Rückfälligkeit („self-regulation model of the relapse process“, SRM) stellt eine Theorie zur Ätiologie sexueller Delinquenz und Rückfälligkeit dar, bei der sexuell motivierte Straftaten und Täter unterschiedlichen Rückfallpfaden und Entscheidungswegen zugeordnet werden, von denen aus wiederum auf individuelle Motive, Defizite und Ressourcen geschlossen werden kann. In der vorliegenden Studie wurde eine Stichprobe von N = 68 Männern, die mindestens eine sexuell motivierte Straftat gegen Kinder begangen haben, in Bezug auf die SRM-Typologisierung beurteilt und hinsichtlich verschiedener klinischer, demografischer und kriminologischer Merkmale verglichen. Unter Verwendung des SRM konnten 25 % (n = 17) dem annähernd-expliziten, 25 % (n = 17) dem vermeidend-passiven, 22,1 % (n = 15) dem annähernd-automatischen und 13,2 % (n = 9) dem vermeidend-aktiven Rückfallpfad zugeordnet werden. Männer mit Annäherungszielen wiesen im Vergleich zu denen mit Vermeidungszielen höhere Werte im Static-99 und ein entsprechend höheres Rückfallrisiko auf. Außerdem wurde bei Männern mit Annäherungszielen häufiger die Diagnose einer Pädophilie gestellt. Die Ergebnisse liefern erste Hinweise dafür, dass das SRM ein nützliches theoretisches Modell sein kann, um Gemeinsamkeiten zwischen Männern, die aufgrund eines Kindesmissbrauchsdelikt verurteilt wurden, aufzudecken.
Die Etablierung des Internets als sozialer Raum stellt die größte Umwälzung menschlicher Kommunikations- und Interaktionsformen der letzten Jahrzehnte dar. Bekannte Delinquenzformen wurden an die digitale Welt angepasst, entstanden sind aber auch neue, strafrechtlich relevante Äußerungsformen in der digitalen Kommunikation. Im Überblick werden kriminologische und forensische Erkenntnisse aus dem deutschsprachigen Raum zu Formen der Cyberkriminalität dargestellt, die im Kontext von Partnerschaft, Sexualität und Peerbeziehungen auftreten: Neben dem Cyberstalking und Cybergrooming wird auf Cyberbullying (oder -mobbing) sowie das (Love- oder Romance‑)Scamming eingegangen und es werden zentrale Forschungsergebnisse referiert. Die Darstellung dieser cyberkriminellen Ausdrucksformen verdeutlicht den stetigen Zuwachs an Bedeutung, den dieser Delinquenzbereich in den letzten Jahren verzeichnet, und unterstreicht gleichzeitig die Notwendigkeit einer spezifischen Cyberkriminologie dieser und anderer digitalen Delinquenzformen.
Auf Grundlage von Daten des Ministeriums der Justiz Rheinland-Pfalz werden Risikofaktoren, Täter- und Tatcharakteristika von Messergewalt empirisch untersucht. Die Stichprobe umfasst N = 452 Personen (n = 37 Frauen, n = 415 Männer), die in Rheinland-Pfalz wegen mindestens eines Falles schwerer Gewaltkriminalität abgeurteilt wurden und deren Aburteilung entweder 2013 oder 2018 Rechtskraft erlangte. Insgesamt 13,9 % der Gewalttaten (n = 63) stellen Fälle von Messergewalt dar. Die beiden Subgruppen (Messergewalt und schwere Gewalt ohne Messereinsatz) werden hinsichtlich Sozialdaten, psychischer Gesundheit, Gewaltverhalten und Viktimisierungserfahrungen verglichen. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass sich Täter/-innen von Messergewalt hinsichtlich sozioökonomischer Aspekte (Bildungsgrad und Arbeitsverhältnis) nicht wesentlich von Täter/-innen schwerwiegender Gewaltdelikte ohne Messereinwirkung unterscheiden. Erstere sind durchschnittlich älter, weisen überproportional häufiger eine Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sowie Erfahrungen elterlicher Gewalt auf. Von besonderer Auffälligkeit ist, dass Täter/-innen von Messergewalt häufig bis zum 18. Lebensjahr mit den Eltern zusammenleben. Nach hier vertretener Ansicht kann dies sowohl als Schutzfaktor im Sinne einer intakten elterlichen Beziehung als auch Risikofaktor im Sinne einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für das Erleben elterlicher Gewalt interpretiert werden. Abschließend wird auf die Limitationen der Untersuchung hingewiesen.
Vor dem Hintergrund der Frage nach Möglichkeiten zur Qualitätssicherung in der strafrechtsrelevanten Begutachtungspraxis werden diverse Forschungsprojekte vorgestellt, die die Einhaltung der 2006/2007 publizierten "Mindestanforderungen" an Prognose- und Schuldfähigkeitsgutachten untersuchen. Der Fokus liegt hierbei auf einem 2023 abgeschlossenen iterativem Forschungsprojekt, in dem N = 1000 Prognose- und Schuldfähigkeitsgutachten über Sexual- und Gewaltstraftäter von 150 verschiedenen Sachverständigen retrospektiv analysiert werden. Der Erstellungszeitraum erstreckt sich von 1999 bis 2016. Es wird konstatiert, dass Gutachten nach dem Erscheinen der Mindestanforderungen stärker auf relevante prognostische Fragen eingehen und, dass die Mindestanforderungen auch bei Schuldfähigkeitsgutachten umgesetzt werden. Darüber hinaus bestätigen die Ergebnisse eine ausgeprägte Heterogenität von angewendeten testpsychologischen Verfahren in der Begutachtungspraxis. Nichtsdestoweniger scheint nach aktuellem Stand eine intuitive Vorgehensweise in der Praxis weiterhin verbreitet zu sein und das Fehlen einer (methodischen) Kontrolle bei der Urteilsbildung an der heterogenen Gutachtenqualität mitverantwortlich zu sein. Weitere Ergebnisse werden diskutiert. Abschließend werden Möglichkeiten der wissenschaftlichen Qualitätssicherung der Begutachtungspraxis erörtert, darunter postgraduale Ausbildungscurricula und interdisziplinär konzipierte Fragenkataloge.
Es wird eine Studie präsentiert, in der die psychodynamisch begründete Perversionstheorie von Robert D. Stoller (1979) empirisch überprüft wird. Nach Stoller können nach (früheren) traumatischen Erfahrungen aggressive Impulse in sexuell deviante Fantasien transformiert werden. Geprüft werden einzelne Aspekte dieser Theorie anhand einer umfangreichen Stichprobe von N = 954 Personen, die aufgrund sexuell motivierter Straftaten verurteilt und zwischen 2002 und 2018 an der Begutachtungs- und Evaluationsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter (BEST) im österreichischen Strafvollzug zu Vollzugszwecken ausführlich begutachtet worden sind. Dabei wurden u. a. der Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren (FAF) sowie der Grazer Assertivitätstest (GAT) verwendet. Die Ergebnisse zeigen, dass als paraphil diagnostizierte Probanden signifikant weniger spontane Aggression und weniger soziale Kompetenz als die Vergleichsgruppe ohne Paraphiliediagnose berichten. Die Ergebnisse lassen sich insofern mit der zentralen Annahme der Stoller’schen Perversionstheorie in Einklang bringen, als dass zwischen einer Paraphilie-Diagnose und selbstberichteter Aggression eine inverse Beziehung festgestellt wird.
Islamistische Radikalisierung erkennen und vermeiden : Präventionsmöglichkeiten im Justizvollzug
(2021)
Das von 2018 bis 2020 an der Kriminologischen Zentralstelle durchgeführte Projekt "Islamistische Radikalisierung erkennen und vermeiden - Prävention im Justizvollzug" und das daraus resultierende "Praxishandbuch Extremismus und Justizvollzug - Islamistischer Radikalisierung begegnen" werden vorgestellt. Das Praxishandbuch unterstützt die Mitarbeitenden des Allgemeinen Vollzugsdienstes darin, im Rahmen der Ressourcen der eigenen Justizvollzugsanstalt einen speziell auf den Einzelfall ausgerichteten individuellen Handlungsplan zur deradikalisierenden Intervention zu erstellen. Das Vorgehen erstreckt sich über vier Schritte: (1) Konkretisierung des Anfangsverdachts, (2) Bildung eines Interventionsteams und Durchführung einer Bestands- und Bedarfsanalyse der Anstalt, (3) Auswahl von Deradikalisierungsmaßnahmen, (4) Berücksichtigung von Qualitätsmerkmalen. Deradikalisierungsmaßnahmen können dabei bei den Inhaftierten (Mikroebene), bei den Bediensteten (Mesoebene) und auf Anstaltsebene (Makroebene) ansetzen. Auf Mikroebene nehmen neben Einzelmaßnahmen vor allem ein strukturierter Vollzugsalltag mit ausreichender Freizeitgestaltung sowie die originäre Resozialisierungsarbeit eine wichtige Rolle ein. Auf Mesoebene rücken insbesondere die Wissensvermittlung, das Kompetenztraining und die Anerkennung der geleisteten Arbeit in den Fokus und auf Makroebene ein positives Anstaltsklima. Abschließend wird konstatiert, dass der multifaktoriell bedingte Phänomenbereich Extremismus einen komplexen Präventionsansatz erfordert.
Untersucht wird der Zusammenhang zwischen einem Heimaufenthalt in der Kindheit und dem aktuellen Rückfallrisiko für erneute Sexualstraftaten sowie ob der Zusammenhang durch potenziell traumatisierende Kindheitserfahrungen (sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung, emotionale Vernachlässigung) vermittelt wird. Die Stichprobe setzt sich aus N = 159 männlichen Sexualstraftätern zusammen, die zwischen 2010 und 2018 in der Sozialtherapeutischen Anstalt Hamburg inhaftiert waren. Die verwendeten Daten basieren auf Akteninformationen (u. a. Urteil, Bundeszentralregisterauszüge, Gutachten) und semistrukturierten Interviews. Die Gruppe mit einem Heimaufenthalt in der Kindheit wies einen niedrigeren sozioökonomischen Status, mehr familiäre Risikofaktoren sowie eine frühere und stärker delinquente Entwicklung auf. Zudem erzielte sie ein höheres Rückfallrisiko. Für das stabil-dynamische, nicht jedoch für das statische Rückfallrisiko wurde dieser Zusammenhang durch den kumulativen Effekt der Anzahl unterschiedlicher potenziell traumatisierender Kindheitserfahrungen vermittelt. Dies deutet darauf hin, dass ein erheblicher Anteil von inhaftierten Sexualstraftätern, die negativen Kindheitserfahrungen ausgesetzt und im Kinderheim untergebracht waren, ein höheres Rückfallrisiko aufweisen und im Erwachsenenalter einer besonderen Betreuung und Kontrolle bedürfen.