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Im 26. Jahr der Erhebungsreihe zur Situation in den sozialtherapeutischen Einrichtungen zeigt sich eine weitere Stabilisierung der strukturellen Gegebenheiten. In diesem Berichtsjahr wurde eine sozialtherapeutische Einrichtung geöffnet und eine geschlossen, sodass weiterhin 71 Einrichtungen vorhanden sind, die geringfügig weniger Haftplätze zur Verfügung stellen konnten als im Vorjahr. Dennoch wird weiterhin die Tendenz einer Versorgungssättigung gesehen, obwohl die Zahl der Gefangenen in sozialtherapeutischen Einrichtungen geringfügig sank. Folglich lässt sich auch eine sinkende Belegungsquote beobachten, ein Trend, der sich seit einigen Jahren fortsetzt. In diesem Jahr sank der Anteil der Gefangenen, die älter als 50 Jahre alt sind leicht, wobei der Anteil der Jugendlichen und Heranwachsenden sich ebenfalls weiter verringerte. Sexualstraftäter*innen stellten wieder die Hälfte der Inhaftierten in der Sozialtherapie. Der Anteil der Gefangenen, die keine Zulassung zu vollzugsöffnenden Maßnahmen innehatten oder höchstens zu Ausführungen zugelassen waren, betrug in diesem Jahr etwas mehr als 82%, was einem neuen Höchststand entspricht. Die Fachdienstausstattung blieb auf gleichbleibend günstigem Niveau mit lediglich 5,7 Haftplätzen auf einer Fachdienststelle. Weitere Ergebnisse und Entwicklungen werden im Bericht dargestellt.
Es wird konstatiert, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Jugendkriminalität spielt und somit auch für die Risikobeurteilung von Relevanz ist. Vor diesem Hintergrund wird die Vorhersagkraft des Prognoseinstruments VRAG-R (Violence Risk Appraisal Guide-Revised) bei jugendlichen Straftätern untersucht. Die Stichprobe setzt sich aus N = 106 männlichen Straftätern aus der Justizvollzugsanstalt Ottweiler im Saarland zusammen. Das Durchschnittsalter beträgt M = 18,3 Jahre. Die Daten wurden den Eintragungen des Bundeszentralregisters zwischen 2001 und 2002 entnommen. Während einer durchschnittlichen Nachbeobachtungszeit von M = 13 Jahren ist bei 62,5 % der Jugendlichen ein Rückfall zu beobachten. Nach hier vertretener Ansicht besitzt der VRAG-R eine gute Vorhersagekraft sowohl bezüglich der allgemeinen Rückfallwahrscheinlichkeit (AUC = 0.861) als auch bezüglich des Rückfalls in Zusammenhang mit Gewalt (AUC = 0.733). Starke Effekte werden auch für die Vorhersage einer erneuten Inhaftierung (AUC = 0.874) gemessen. Es wird geschlussfolgert, dass sich der VRAG-R unter bestimmten Bedingungen dazu eignet, Vorhersagen bei straffälligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu treffen, allerdings werden eine zielgruppengerechte Anpassung sowie weiterführende Untersuchungen empfohlen. Abschließend wird dafür plädiert, ADHS-Symptome im Kontext des Jugendstrafvollzugs für ein langfristiges Risikomanagement in den Fokus zu nehmen.
Es wird eine Studie präsentiert, in der die psychodynamisch begründete Perversionstheorie von Robert D. Stoller (1979) empirisch überprüft wird. Nach Stoller können nach (früheren) traumatischen Erfahrungen aggressive Impulse in sexuell deviante Fantasien transformiert werden. Geprüft werden einzelne Aspekte dieser Theorie anhand einer umfangreichen Stichprobe von N = 954 Personen, die aufgrund sexuell motivierter Straftaten verurteilt und zwischen 2002 und 2018 an der Begutachtungs- und Evaluationsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter (BEST) im österreichischen Strafvollzug zu Vollzugszwecken ausführlich begutachtet worden sind. Dabei wurden u. a. der Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren (FAF) sowie der Grazer Assertivitätstest (GAT) verwendet. Die Ergebnisse zeigen, dass als paraphil diagnostizierte Probanden signifikant weniger spontane Aggression und weniger soziale Kompetenz als die Vergleichsgruppe ohne Paraphiliediagnose berichten. Die Ergebnisse lassen sich insofern mit der zentralen Annahme der Stoller’schen Perversionstheorie in Einklang bringen, als dass zwischen einer Paraphilie-Diagnose und selbstberichteter Aggression eine inverse Beziehung festgestellt wird.
In der jüngeren Vergangenheit wird medial und politisch über die Frage eines Anstiegs der sog. Messerkriminalität sowie über einen mutmaßlichen Zusammenhang mit der Staatsangehörigkeit der Täter/-innen diskutiert. Anhand von Daten aus Rheinland-Pfalz werden aktuelle empirische Ergebnisse über das Phänomen der Messerkriminalität berichtet. Ausgehend von einer Erhebung des rheinland-pfälzischen Ministeriums der Justiz wurden zu diesem Zweck Urteilstexte von insgesamt N = 519 rechtskräftig wegen schwerer Gewaltkriminalität abgeurteilten Personen ausgewertet, die sich auf Aburteilungen des Jahres 2013 (n = 253) und des Jahres 2018 (n = 266) beziehen. Die Ergebnisse zeigen, dass es keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen Messerkriminalität und schwerer Gewaltkriminalität insgesamt hinsichtlich der untersuchten Variablen, insbesondere der Staatsangehörigkeit, gibt. Auch ein massiver Anstieg der Messergewalt von 2013 auf 2018 konnte nicht nachgewiesen werden. Lediglich der Unterschied zwischen Messerkriminalität und genereller schwerer Gewaltkriminalität hinsichtlich der Schuldfähigkeitsbeurteilung war für beide Jahrgänge hochsignifikant. Es wird geschlussfolgert, dass auf Grundlage der vorliegenden Ergebnisse kein unmittelbarer kriminalpolitischer Handlungsbedarf abgeleitet werden kann.
Aktuell werden Angriffe gegen Rettungsdienstpersonal medial und politisch vermehrt diskutiert, was u. a. politische Initiativen und Gesetzesänderungen zur Folge hat. Es wird konstatiert, dass die wissenschaftliche Studienlage in Deutschland insbesondere in Hinsicht auf die Prävalenzen solcher Vorfälle lückenhaft ist. Zwischen Mai bis August 2021 wurden im Rahmen einer Langzeitbefragung das Rettungsdienstpersonal mit Hilfe eines Onlinefragebogens befragt und qualitative Interviews mit Experten und Expertinnen bzw. Betroffenen geführt. Neben den Häufigkeiten von Gewaltdelikten wurden Eskalationsfaktoren sowie Folgen der Vorfälle für die betroffenen Einsatzkräfte erhoben. Es zeigt sich, dass Angriffe, insbesondere verbaler Art, zum Arbeitsalltag von Rettungsdienstpersonal gehören. Im Durchschnitt wurden wöchentlich 29 % der Befragten beleidigt, belästigt oder verbal bedroht. Pro Woche waren 8 % der Befragten körperlichen Angriffen ausgesetzt. Die Betroffenen äußern den Wunsch nach Nachbetreuung und eine Anpassung der Ausbildungslage. Empfohlen werden Schulungen, die für Gefahren sensibilisieren, Deeskalationsansätze in den Blick nehmen und Eigensicherung thematisieren.
Mit dem am 10. November 2016 in Kraft getretenen 50. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung (50. StrÄndG) wurde vorrangig § 177 StGB grundlegend geändert. In der zuvor geführten Diskussion war eine zentrale Frage diejenige nach bestehenden Strafbarkeitslücken gewesen; also nach straffreien, aber als strafwürdig erachteten Sachverhalten. Eine solche Schutzlücke wurde primär darin gesehen, dass keine Strafbarkeit nach § 177 StGB a. F. eintrat, wenn es zwar zu sexuellen Handlungen gegen den Willen Betroffener kam, dies aber nicht mit einer Nötigung verbunden war. Das Gesetzgebungsverfahren zeigte auf, dass sich die eine oder andere bloße Annahme, insbesondere hinsichtlich der Gründe für nicht erfolgte Verurteilungen in Strafverfahren, in denen Beschuldigten die Begehung einer Straftat nach § 177 StGB a. F. vorgeworfen wurde, über die Zeit zu vermeintlicher Gewissheit verfestigte, ohne dass dieser empirisch-kriminologische Befunde zugrunde lagen.
In der vorliegenden Studie werden 80 freisprechende Urteile, die vor dem 31.12.2015 ergangen waren und damit sicher einen Tatvorwurf nach § 177 StGB a. F. zum Gegenstand hatten, im Hinblick auf ihre Gründe für diese gerichtlichen Entscheidungen analysiert. Zudem wurden weitere in den Urteilen enthaltene Angaben, etwa zum Tatgeschehen und zur Hauptverhandlung, erfasst. Unter den ausgewerteten Freisprüchen fanden sich fünf (6 %), bei denen es sich um sogenannte Schutzlückenfälle gehandelt haben könnte, wobei dieses Ergebnis nicht impliziert, dass es unter Anwendung des aktuellen § 177 StGB zwingend zu einer Verurteilung gekommen wäre.
Der Jugendstrafvollzug kann auf verschiedenen Ebenen (z. B. situatives Verhalten, gefestigte Bindungen, Legalbewährung) Einfluss auf das inhaftierte Klientel nehmen. Untersucht wird mit Hilfe der Eintragungen im Bundeszentralregister die Rückfallrate von N = 875 Jugendstrafgefangenen (JSG), die ab 2011 in der sächsischen Jugendstrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen inhaftiert und zwischen 2013 und 2018 entlassen worden sind. Insgesamt werden bei einem dreijährigen Beobachtungszeitraum nach Entlassung ca. 70 % der JSG erneut verurteilt. Folgende Faktoren deuten auf höhere Rückfallraten und/oder schnelleren Rückfall hin: (1) Entlassung zum Strafende (statt zur Bewährung), (2) jüngeres Alter, (3) Suchtmittelproblematik, (4) höher eingeschätztes Rückfallrisiko durch den Sozialdienst bzw. den Jugendlichen selbst und (5) Ablehnung und Abbruch von Behandlungsmaßnahmen. Einschlägig rückfällig werden Straftäter insbesondere bei materiellen Delikten (z. B. Diebstahl, Betrug). Das Vorhandensein eines Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz wirkt sich nicht präventiv auf einen Rückfall aus. Es wird darauf hingewiesen, dass – vom Jugendstrafvollzug unabhängige – Drittvariablen auf die Rückfälligkeit der JSG Einfluss nehmen.
Abschlussbericht der Expertenkommission zur Verbesserung der Aufklärung komplexer Unglücksereignisse
(2022)
Zehn Jahre nach dem Loveparade-Unglück in Duisburg (24.06.2010) hat der Landtag Nordrhein-Westfalen die Einsetzung einer Expertenkommission beschlossen, um zukünftig die Aufklärung komplexer Unglücksereignisse zu verbessern. Der Beschluss erfolgte als Reaktion auf die Kritik an der (rechtlichen) Aufarbeitung des Loveparade-Unglücks (u. a. zu späte Anklageerhebung, lange Prozessdauer). Analysiert wird anhand des Beispiels des Gerichtsverfahrens zum Loveparade-Unglück, auf welche Art und Weise multikausale Unglücksereignisse bestmöglich aufgeklärt werden können. Dafür werden die verfahrensbestimmenden Dokumente (u. a. Anklageschrift, Beschlüsse) ausgewertet sowie am Verfahren maßgeblich beteiligte Personen interviewt. Im ersten Teil des Berichts stellt die Expertenkommission zwanzig Vorschläge zur Verbesserung der Aufklärung komplexer Unglücksereignisse vor und erörtert diese detailliert (u. a. Modifizierung der Verjährungregelungen, Einsatz von Opferstaatsanwälten bzw. Opferstaatsanwältinnen, Überarbeitung des Adhäsionsverfahren, Einrichtung einer Sachverständigendatenbank, Bau geeigneter Sitzungssäle etc.). Zudem wird auf Einrichtungen der Schadensaufklärung im europäischen Ausland verwiesen. Im zweiten Teil des Berichts stellt die Kriminologische Zentralstelle (KrimZ) die Ergebnisse der Interviews vor (u. a. Verzögerungen bei Großverfahren, Personalausstattung, Öffentlichkeitsarbeit, Sachverständige etc.), welche sie im Auftrag der Expertenkommission ausgewertet hat.
Zwischen 2019 und 2021 hat das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung und das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht das Projekt „Konfliktregulierung in Deutschlands pluraler Gesellschaft“ verantwortet und in diesem Rahmen auf Initiative und mit Unterstützung des Ministeriums der Justiz und des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen ein Lagebild zur Paralleljustiz in Nordrhein-Westfalen aus strafrechtlicher Sicht erstellt. Untersucht werden Konfliktregulierungsprocederes, die außerhalb der rechtsstaatlichen Ordnung verortet werden. Dafür wurden leitfadengestützte Interviews mit N = 39 Praktikern bzw. Praktikerinnen der Justiz geführt, N = 29 Personen nahmen am Mapping Exercise teil, es wurden Fokusgruppendiskussionen in Form von Runden Tischen mit N = 44 Experten bzw. Expertinnen organisiert und eine Aktenanalyse (N = 26) durchgeführt. Dargestellt wird die Innenperspektiven staatlicher Akteure zum Begriff Paralleljustiz sowie Konfliktregulierung. Es zeigt sich, dass außergerichtliche Konfliktregulierungsprocederes insbesondere im Bereich der Organisierten Kriminalität bzw. Rauschgift-Kriminalität in Kombination mit bestimmten Sozialstrukturen (u. a. verwandtschaftliche Zugehörigkeit, nationale Identität, gemeinsame Interessen) entstehen. Zudem wird eruiert, dass die in Nordrhein-Westfalen seit 2011 gültige Berichtspflicht zu Verdachtsfällen im Bereich der Paralleljustiz wenig bekannt ist. Abschließend werden Handlungsempfehlungen angeführt.